hpo Konjunkturkommentar 2. Quartal 2023
Wie verhält sich der Auftragseingang in der Industrie?
Nach den Corona-bedingten Zwangspausen der grossen Industriemessen konnten in den letzten Monaten wieder zahlreiche internationale Messen durchgeführt werden. Das hpo forecasting Team besuchte im Verlauf des Frühlings verschiedene Messen und konnte dabei zahlreiche Gespräche mit Entscheidungsträgern aus der Industrie führen. Die Stimmungslage war dabei ähnlich wie sie Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank, im Januar am World Economic Forum (WEF) auf den Punkt brachte: “Not as bad as feared.”Nach dem Ausbleiben der Energiekrise in Europa und der Aufhebung der strikten Corona-Massnahmen in China ist eine Erleichterung bei den Entscheidungsträgern in der Industrie spürbar. Die Umsätze bleiben aufgrund der nach wie vor sehr hohen Auftragsbestände und der Normalisierung der Lieferkettensituation auf erfreulichem Niveau. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) meldete kürzlich, dass seine Mitglieder derzeit im Durchschnitt einen Auftragsbestand ausweisen, der eine Betriebsauslastung von beinahe 12 Monaten ermöglicht. Dieses Polster stimmt positiv.
Was bei der Interpretation der Quartalszahlen von Unternehmen oft vergessen geht, ist die Tatsache, dass Firmen immer die nominalen Wachstumszahlen kommunizieren. In den letzten Jahrzehnten war dies auch nie ein Problem, da die Inflationsraten stets sehr tief waren. Doch bei den aktuellen Inflationszahlen von 7 % in der Eurozone bedeuten konstante Auftragseingangszahlen in Tat und Wahrheit einen schmerzhaften Rückgang.
Am Beispiel des Auftragseingangs der deutschen Maschinenbauer sieht die Situation wie folgt aus: Im ersten Quartal 2023 stieg der Auftragseingang gegenüber dem Schlussquartal 2022 um 3,5 %. Damit lag der Auftragseingang der deutschen Maschinenbauer jüngst nominell nur 2,5 % unter dem bisherigen Rekordquartal Q1 2021.
In realen Zahlen relativiert sich das positive Bild, denn inflationsbereinigt sank der Auftragseingang gemäss Daten von Destatis im Q1 2023 um satte 10,5 % im Jahresvergleich.
Auch in den USA sank der Auftragseingang der Maschinenbauer im Jahresvergleich nominal nur um 2,6 %. Doch real entspricht dies auch dort einem beträchtlichen Rückgang. Der prognostizierte Rückgang des Auftragseingangs in der Industrie ist in den meisten Industriesegmenten bereits Tatsache, wird aber aufgrund der hohen nominellen Werte in vielen Fällen nicht als solcher wahrgenommen.

Abb. 1: Auftragseingang deutscher Maschinenbauer – real und nominal
Quellen: Rohdaten Destatis, Darstellung hpo forecasting
Automotive holt auf
Nach dem Pandemie-Schock im ersten Halbjahr 2020 profitierte die Industrie auf breiter Front von einer überaus starken Nachfrage. Wie an dieser Stelle schon wiederholt dargelegt, wurde dieser Boom von den präzedenzlosen Stimulusmassnahmen der Regierungen, insbesondere in den USA, angetrieben. Etwas plakativ lässt sich der Zusammenhang wie folgt zusammenfassen: Die Amerikaner stimulierten den Konsum mit sehr hohen Transferzahlungen an die Bevölkerung, die grosse Nachfrage nach Konsumgütern wurde von chinesischen Produzenten gestillt, die dafür zahlreiche Maschinen aus Europa beschafften. Die explodierende amerikanische Nachfrage nach Konsumgütern sowie der Digitalisierungsschub liessen die Nachfrage nach Halbleitern in die Höhe schiessen und führten zu Lieferschwierigkeiten, unter denen insbesondere die Automobilindustrie stark litt.
Die Verliererin dieser Dynamik war die Automobilindustrie. Die Anzahl neuregistrierter Automobile verharrte gemäss hpo Modellrechnungen beispielsweise in den USA zwischen Mitte 2021 bis Q3 2022 auf einem rund 20 % tieferem Niveau, als aufgrund der Konjunkturindikatoren hätte erwartet werden können. Dasselbe gilt für die weltweite Automobilproduktion. Diese Phase scheint nun langsam zu Ende zu gehen und sowohl bei der Neuregistrierung von Automobilen sowie auch deren Produktion ist eine klare Aufwärtstendenz erkennbar. Ob der «Unterkonsum» von Fahrzeugen ab Mitte 2021 nun mit einem «Überkonsum» kompensiert werden kann, ist allerdings fraglich, denn die Entspannung auf der Produktionsseite fällt nun genau in eine Zeit, in der erneut mit einer konjunkturell bedingten Nachfragebaisse gerechnet werden muss. Unsere Erwartung ist deshalb, dass trotz Aufholeffekten die bisherigen Rekordwerte der globalen Fahrzeugproduktion von 2018 vorläufig nicht erreicht werden können. Erschwerend kommt dazu, dass das Trendwachstum der globalen Automobilproduktion bereits seit 2015 leicht negativ ist.

Abb. 2: Monatliche Automobilproduktion der wichtigsten Automobilhersteller, die gemeinsam ca. 88 % der weltweiten Produktion verantworten.
Quelle: Rohdaten Trading Economics, Darstellung hpo forecasting
Schlecht gelaunte Konsumenten sind immer noch in Konsumlaune
Der lebhafte Konsum ist nach wir vor eine zentrale Stütze der guten Wirtschaftslage. Dies obwohl im Jahr 2022 nicht nur in den USA, sondern auch in Europa und China die tiefsten je verzeichneten Werte bezüglich Konsumentenstimmung gemessen wurden. Das ist erstaunlich, da in Europa und den USA die Arbeitslosenquoten gleichzeitig sehr tief und die Jobsicherheit hoch war. Die Pandemie, die Ukrainekrise und die hohe Inflation sorgen aber für grosse Verunsicherung. Die Talsohlen wurden in der Zwischenzeit klar überschritten, die Konsumentenstimmung liegt aber nach wie vor tief im kontraktiven Bereich. In den USA ist die Stimmung nach einer Erholungsphase von drei Quartalen jüngst wieder leicht gesunken und liegt gegenwärtig mit 97,3 Punkten immer noch unter dem tiefen Wert vom Frühling 2020, dem Höhepunkt der Coronakrise in Amerika.

Quellen: Rohdaten OECD, Darstellung hpo forecasting
Vom Stimmungsaufschwung in China profitiere vor allem die inlandorientierten Sektoren
Markant besser ist nach wie vor die Stimmung bei den Unternehmen. In China stieg der von der OECD publizierte Business Confidence Index (BCI) nach dem Tiefpunkt im November (96,9 Punkte) bis im Mai beinahe wieder auf 99,5 Punkte, nur knapp unter dem neutralen Wert von 100 Punkten. Allerdings sank der vom chinesischen Wirtschaftsmagazin Caixin erhobene Purchasing Managers’ Index des verarbeitenden Gewerbes (“Manufacturing PMI”) nach zwei Monaten im expansiven Bereich im April entgegen der Erwartungen von Analysten wieder knapp in den kontraktiven Bereich. Die sich rasch verbessernde Stimmung in China wird vor allem vom inlandorientierten Service-Sektor getragen, während die Exporte aus China seit Ende 2022 markant gesunken sind.
In Europa bewegt sich der BCI in neutralem Terrain knapp über 100, zuletzt wieder mit leicht fallender Tendenz.
In den USA ist die Stimmung in der Wirtschaft etwas pessimistischer und im April lag der BCI bei knapp 99 Punkten. Die Pleitewelle unter den amerikanischen Regionalbanken dürfte hier auf die Stimmung drücken. Verschiedene Analysten weisen darauf hin, dass die Regionalbanken bei mittelständischen Unternehmen als Kreditgeber eine dominante Marktstellung haben. Aufgrund der grossen Liquiditätsschwierigkeiten der Regionalbanken haben sich die Finanzierungsbedingungen für diese KMU schlagartig verschlechtert. Dies wird Finanzierungsschwierigkeiten nach sich ziehen und weiter auf die Stimmung der kleineren und mittleren Unternehmen drücken. Dazu gehören auch viele Industrieunternehmen.

Abb. 4: Business Confidence Index (BCI)
Quellen: Rohdaten OECD, Darstellung hpo forecasting
Insgesamt zeigen die Modellrechnungen von hpo in den kommenden Quartalen fallende Auftragseingangszahlen für die Industrie und allgemein eine Verlangsamung der wirtschaftlichen Dynamik.
Hohe Staatsverschuldung weltweit wieder im Fokus
In Zeiten von ultratiefen Zinsen geriet das Thema der hohen Staatsschulden etwas in den Hintergrund. Nach den scharfen Leitzinserhöhungen seit Anfang 2022 sind die Kosten des Schuldenmachens aber stark gestiegen. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als insbesondere während der Pandemie die Staatsausgaben explodierten. Beispielsweise stieg in den vergangenen zwei Jahren in den USA die Verschuldung der Bundesregierung um rund einen Drittel auf über 31 Billionen USD und erreichte 117 % des Bruttoinlandprodukts.

Abb. 5: Entwicklung der Staatschuldung (nur staatliche Ebene) in den USA, China und der Eurozone in % des BIP
Quellen: Rohdaten Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Darstellung hpo forecasting
Die hohen Staatsschulden in allen grossen Wirtschaftsregionen werden zunehmend zum Problem und drohen sowohl kurzfristig als auch langfristig die Wirtschaft in Mitleidenschaft zu ziehen.
Kurzfristig besteht das grösste Risiko für wirtschaftliche Verwerfungen in den USA. In den Vereinigten Staaten ist die Schuldenobergrenze der Bundesregierung gesetzlich festgelegt und liegt derzeit bei 31,4 Billionen USD. Diese Grenze wurde in der Zwischenzeit erreicht und die Zahlungsunfähigkeit kann nur mit einem ausgeklügelten Liquiditätsmanagement und dem Anzapfen von Reserven verhindert werden. Im Kongress benötigen die Demokraten die Zustimmung zumindest eines Teils der Republikaner, um die Schuldenobergrenze anheben zu können. Diese verlangen für ihr Entgegenkommen aber massive Kostensenkungen bei den Lieblingsprojekten der Demokraten in den Bereichen Klima und soziale Sicherheit. Das wiederum ist für die Demokraten nicht akzeptabel. Können sich die beiden Parteien in den kommenden Wochen nicht einigen, droht im Juni die Zahlungsunfähigkeit der amerikanischen Regierung. Das war schon wiederholt der Fall (letztmals noch vor der Pandemie während der Präsidentschaft von Donald Trump) und ging jeweils ohne allzu grosse wirtschaftliche Kollateralschäden über die Bühne, weil sich die Parteien doch noch irgendwann einigten. Anders als in der Vergangenheit ist die amerikanische Wirtschaft heute aber in einer viel fragileren Verfassung und viele Ökonomen rechnen ohnehin mit einer leichten Rezession im Verlauf des Jahres. Das Bankensystem leidet schon seit Monaten unter Stress. Fehleinschätzungen der Parteien im Verhandlungspoker könnten in diesem Umfeld katastrophale Folgen haben, warnte Finanzministerin Janet Yellen Anfang Mai.
Die Kerninflation liegt in Europa und den USA nach wie vor weit über 5 %. Der bisherige Kampf gegen die Inflation war verhältnismässig einfach, weil die Notenbanken die Leitzinsen in einem starken wirtschaftlichen Umfeld erhöhen konnten. Der Weg zur Preisstabilität ist aber immer noch weit und wenn sich die Wirtschaft wie erwartet abkühlt, wird der Druck auf die Notenbanken steigen, den Fuss vom Bremspedal zu nehmen. Mit den Leitzinsen steigen auch die Kosten für die Bedienung der Staatsschulden stark an. Die Europäische Zentralbank konnte ihre Zinserhöhungen seit letztem Sommer nur dank der gleichzeitigen Einführung eines neuen Instruments umsetzen. Dieses erlaubt ihr, in grossem Stil Staatsanleihen von stark verschuldeten Eurostaaten zu kaufen. Es verhinderte, dass die Risikoaufschläge für hoch verschuldete Länder stark stiegen. Ohne dieses Instrument wären die aktuellen Leitzinserhöhungen ohne gleichzeitige Euro-Krise kaum möglich gewesen. Die Rücksichtnahme auf die überschuldeten Länder Europas behindert die EZB in ihrem Kampf gegen die Inflation.
Auch in China ist die Verschuldung vor allem seit der Finanzkrise sehr stark gestiegen, insbesondere auch diejenigen der Regionalregierungen. Diese waren angehalten, stark in die Infrastruktur zu investieren, um die ambitionierten Wachstumsziele zu erreichen. Die Provinz Guizhou steht gemäss Berichten der Wirtschaftsmagazine Caixin und The Economist nahe an der Zahlungsunfähigkeit, weiteren Provinzen geht es ähnlich. Der amerikanische Finanztheoretiker Michael Pettis sieht die Ursache dafür in der Tatsache, dass China mit 42 bis 44 % den weltweit höchsten Investitionsanteil am BIP ausweist. Global liegt dieser Anteil etwa bei 25 %, in reifen Volkswirtschaften etwa bei 15 bis 20 % des BIP. Selbst für Schwellenländer mitten in der Wachstumsphase sind 35 % ein sehr hoher Wert. Die Konsequenz ist, dass in China heute die volkswirtschaftlichen Kosten von Infrastrukturinvestitionen höher sind als deren gesamtwirtschaftlicher Nutzen. Pettis legt in seinem äusserst lesenswerten Essay «Kann China langfristig mehr als 2 bis 3 % wachsen?» vom 21. April 2023 im Wirtschaftsmagazin The Market/NZZ überzeugend dar, dass der explodierenden Verschuldung im Land nur mit einem Rebalancing der Wirtschaft Einhalt geboten werden kann. Oder anders ausgedrückt, der Konsum muss auf Kosten der Infrastrukturausgaben massiv steigen. Bleibt die erdrückende Übergewichtung der Infrastrukturausgaben, wird die Verschuldung weiterhin schnell und massiv steigen, und dies in einer rasch alternden Gesellschaft. Solche Rebalancing-Prozesse, die stets hohe Anpassungskosten verursachen, haben alle reifen Volkswirtschaften im Laufe der Geschichte durchgemacht. Abhängig davon, wie schnell die Anpassung gelingt, sind eine heftige Rezession oder eine längere Phase mit tiefem Wirtschaftswachstum die Begleiterscheinung.
Erste Anzeichen dieses Prozesses sind in China mit der schwelenden Immobilienkrise bereits erkennbar. Nimmt diese Entwicklung weiter Fahrt auf, stehen China Jahre mit einem tiefen Wirtschaftswachstum bevor, auch eine Rezession kann nicht ausgeschlossen werden. Unternehmen, die stark von Investitionen abhängig sind, müssten in diesem Szenario darben. Da bei diesem Rebalancing der Anteil des Konsums am BIP markant wachsen muss, entstehen in China dadurch am ehesten Chancen für Hersteller von Konsumgütern und konsumnahe Bereiche.