hpo Konjunkturkommentar 2. Quartal 2022
Grosse Volatilität und Verunsicherung in vielen Märkten durch die Konzentration einschneidender Ereignisse
Die Ereignisse der letzten Monate überschlagen sich: anhaltend hohe Inflationsraten weit über sieben Prozent in Europa und den USA, grossflächige Lockdowns in vielen Millionenstädten Chinas und ein Angriffskrieg in Europa. Jedes dieser Ereignisse wäre in «normalen» Zeiten schon sehr aussergewöhnlich. Derzeit erleben wir eine Konzentration von sehr einschneidenden Ereignissen. Entsprechend gross sind die Volatilität und Verunsicherung in einer Vielzahl von Märkten.
Zudem steigt das Risiko, dass sich Akteure von der aktuellen geopolitischen Lage dazu hinreissen lassen, die unübersichtliche Situation auszunutzen. Sind die Grossmächte auf den bedeutenden Schauplätzen absorbiert, bietet das anderen Ländern die Möglichkeit, in ihren Einflussgebieten ebenfalls Fakten zu schaffen. Dies könnte in den kommenden Monaten noch weitere «aussergewöhnliche Ereignisse» provozieren. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung bleibt voraussichtlich noch einige Zeit unberechenbar. Umso wichtiger ist es, die Fakten und Konjunkturdaten genau zu beobachten und in den historischen Kontext zu stellen, um daraus Lehren zu ziehen.
1. Negative Korrelation zwischen Inflation und BIP-Wachstum
Der Ukraine-Krieg und die grossflächigen Lockdowns in China verstärken beide die ohnehin schon hohe Inflation. Diese bewegt sich auf einem Niveau wie wir sie seit rund 40 Jahren nicht mehr gesehen haben. Im April ist die US-Teuerung erstmals seit letztem August leicht gesunken (von 8,5 % auf 8,3 %), da der Basiseffekt aus der Pandemie etwas nachlässt. Der Rückgang war aber weniger stark als von vielen Ökonomen erwartet. Der Inflationsdruck wirkte zudem breiter und ist in der Zwischenzeit auch im Service-Sektor angekommen.
Was sind die Konsequenzen der hohen Inflation auf die Realwirtschaft? Dazu haben wir für die letzten 60 Jahre die Inflationsraten und das Wirtschaftswachstum in den USA verglichen (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Inflationsrate und BIP-Wachstum in den USA im Vergleich zum Vorjahresquartal
Quelle: Rohdaten OECD und Federal Reserve St. Louis; Darstellung hpo forecasting
Die Auswertung
zeigt, dass insbesondere bei hohen Inflationsraten eine
klar negative Korrelation zwischen den beiden Werten
besteht. Oder anders ausgedrückt: Eine hohe Inflation
provozierte in der Vergangenheit in den USA jeweils eine Rezession. Eine solche hätte globale Auswirkungen. Das amerikanische Fed setzt alles daran,
dass eine möglichst sanfte Landung aus der expansiven
Geldpolitik gelingt. Damit eine effektive Bekämpfung
der Inflation möglich wird, muss die überhitzte Wirtschaft auf jeden Fall abgekühlt werden. Dieser Vorgang
wird in der Ökonomie mit dem martialischen Begriff
«Nachfragezerstörung» bezeichnet.
2. Zero-Covid-Strategie in China belastet die Lieferketten noch länger
Nach wie vor sind die gestörten Lieferketten die grösste Herausforderung für die Industrie. Vor Schanghai stauen sich hunderte von Containerschiffen (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Wartende Schiffe vor Schanghai am 14. Mai 2022
Quelle: FleetMon
Der EU-Handelsbeauftragte in China, Jörg Wuttke, argumentiert in einem Interview mit «The Market/NZZ» überzeugend, weshalb die für die Wirtschaft verheerende Zero-Covid-Strategie mit strikten Lockdowns in den nächsten Monaten kaum gelockert werden wird: Die politische Zukunft des Präsidenten Xi Jinping ist eng mit dem Erfolg der Zero-Covid-Strategie verbunden und eine fundamentale Kursänderung ist bis zum wichtigen Parteikongress im vierten Quartal nicht zu erwarten. Das deckt sich mit den Resultaten einer Umfrage des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), wonach nur eine Minderheit der 850 in China ansässigen deutschen Mitgliedsunternehmen in den kommenden sechs Monaten mit einer Verbesserung der Situation rechnen.
3. Tiefe Spuren in Chinas Konjunkturdaten
Die Lockdown-Massnahmen, welche ab Anfang April nochmals markant verschärft wurden, hinterlassen tiefe Spuren in den chinesischen Konjunkturzahlen. Dazu ein paar Fakten von Caixin Global und Trading Economics:
- Konsumentenstimmung: Rückgang um 7,3 Punkte im März im Vergleich zum Februar 2022, wobei der Wert mit 113 Punkten aber immer noch klar über dem neutralen Stand bei 100 Punkten liegt. Der vom chinesischen National Bureau of Statistics erhobene Index bewegt sich seit 2017 durchgehend im positiven Bereich und lag im März auf dem Niveau wie auf dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle Anfang 2020. Im April dürfte er weiter markant gesunken sein.
- Services PMI: Rückgang von 42 auf 36 Punkte im April (50 Punkte = neutraler Wert)
- Manufacturing PMI: Rückgang von 48 auf 46 Punkte im April (50 Punkte = neutraler Wert)
- Industrieproduktion: –2,9 % im April im Vergleich zum Vorjahresmonat
- Einzelhandelsumsatz: –11,1 % im April im Vergleich zum Vorjahresmonat
- Neuregistrierung von Automobilen in China: –43 % im April im Vergleich zum Vorjahresmonat
Gemäss Schätzungen des deutschen Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» haben seit 2020 rund die Hälfte
aller Ausländer China verlassen. Wuttke schätzt,
dass über den Sommer ein weiterer Viertel das Land
verlassen wird. Die Entkoppelung zwischen China und
dem Westen nimmt Fahrt auf. Kann dieser Trend nicht
rückgängig gemacht werden, wird dies zu einem Wohlstandsverlust auf beiden Seiten führen.
4. Konsum und Industrieproduktion in Europa immer noch dynamisch
In Europa bewegt sich der Einzelhandelsumsatz seit rund einem Jahr auf sehr hohem Niveau. Dieser profitierte während der Pandemie von den veränderten Konsumgewohnheiten und den hohen staatlichen Transferleistungen. Trotz Ukrainekrise und hoher Inflation, die das verfügbare Einkommen wegfrisst, blieb der Konsum in Europa im ersten Quartal weiterhin sehr hoch. Auch die europäische Industrieproduktion bewegt sich nach wie vor auf sehr hohem Niveau, wobei die OECD seit Anfang Jahr einen leichten Rückgang registriert.
Beim Auftragseingang meldet der VDMA für den März real erstmals einen sinkenden Auftragseingang im Vergleich zum Vorjahresmonat (–4 %). Das Gesamtquartal verzeichnete im Vergleich zum Vorjahr aber ein Plus von 7 %. Damit bewegt sich die Nachfrage im deutschen Maschinenbau seit rund drei Quartalen auf einem Niveau seitwärts, das weit über dem Vorkrisenniveau liegt. Die Auftragsbestände sind entsprechend immer noch sehr hoch und die grösste Herausforderung bleiben die gestörten Lieferketten.
Was uns Sorgen bereitet, sind die abstürzenden
Stimmungsindikatoren. Seit die Inflation Mitte 2021
in der breiten Öffentlichkeit ein Thema wurde, stürzt
der Consumer Confidence Index (CCI) von einem hohen
Niveau ab und bewegt sich nun tief im kontraktiven
Bereich (siehe Abb. 3).

Abb. 3: Consumer Confidence Index (CCI) ausgewählter Regionen/Länder
Quelle: OECD
Der Business Confidence Index (BCI) bewegt sich noch im expansiven Bereich über dem Wert 100, sinkt aber auch markant. Die beiden Indikatoren korrelieren in der Regel recht stark und haben eine zuverlässige Frühindikatorfunktion für die Industrie.
5. Konsumentenstimmung auch in den USA unter Druck
Auch in den USA ist die Konsumentenstimmung seit Mitte 2021 und dem Anstieg der Inflation stark gesunken, hat sich zuletzt aber auf tiefem Niveau stabilisiert. Der aktuelle Wert liegt allerdings weit unter demjenigen, wie er während des Höhepunktes der Corona-Krise gemessen wurde.

Abb. 4: Einzelhandelsumsatz in den USA
Quelle: OECD
Da die amerikanischen Privathaushalte im Durschnitt stärker in Aktien investiert sind als die europäischen, werden die stark sinkenden Aktienmärkte der letzten Wochen und Monate auch eine negative Auswirkung auf den amerikanischen Konsum haben.
Die Industrieproduktion hat sich in den USA nach dem tiefen Fall in der Anfangsphase der Pandemie nur sehr zögerlich erholt, gewann aber zuletzt wieder an Fahrt. Daran dürften nicht zuletzt die hohen Energiepreise einen Anteil haben, welche das Fracking wirtschaftlich wieder attraktiv machen. Je nach Quelle beschäftigt die amerikanische Shale-Gas-Industrie 500 000 bis etwa zwei Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter. Auch die US-Erdgasförderung profitiert von der Ukrainekrise.
6. Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Realwirtschaft noch vom dynamischen Konsum und der starken Industrieproduktion in Europa und den USA profitiert. Die meisten Hersteller von Investitionsgütern verzeichnen weiterhin hohe Auftragsbestände. Behalten die Frühindikatoren recht, ist in den kommenden Monaten aber mit einer empfindlichen Abschwächung des Wirtschaftswachstums und damit auch der Nachfrage in der Industrie zu rechnen.